Stellungnahme: Der NSU und sein Umfeld – dem Rechtsterrorismus wird kein Einhalt geboten!

Cultures Interactive fordert, die immensen Auswirkungen des Rechtsextremismus endlich ernst zu nehmen

Im letzten Jahr mussten wir mit Bestürzung einen eklatanten Anstieg weltweiter rechtsterroristischer Angriffe beobachten. Dass es sich hierbei nicht um erschütternde Einzeltaten, sondern um eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung handelt, veranschaulicht die gerade erschienene Polizeiliche Kriminalstatistik. Im Vergleich zu 2018 verzeichnet sie im Jahr 2019 einen beängstigenden Anstieg politisch motivierter Straftaten um 14 Prozent. Hierbei fallen vor allem antisemitische (+13%) und islamfeindliche (+4,4%) Delikte ins Gewicht.

Im Januar 2020 hat Bundespräsident Steinmeier in Yad Vashem in seiner Rede zur Auschwitz-Befreiung in aller Deutlichkeit darüber gesprochen, welch große Verantwortung wir angesichts des sich ausbreitenden „Hasses und der Hetze“ tragen. Doch kurz nach dem Attentat in Hanau im Februar 2020, drängte die mediale Berichterstattung zur Corona-Krise das Thema des grassierenden Rechtsterrorismus in den Hintergrund. Unterzugehen drohen dadurch die Anliegen von Betroffenen, deren Ängste, Wut und berechtigte Kritik etwa an den oft nicht zureichenden sicherheitspolitischen und polizeilichen Maßnahmen. Denn einmal mehr haben die jüngsten Attentate gezeigt, dass aus den Morden der rechtsextremen Terrorist*innen des NSU vor über zehn Jahren nur kaum wirkungsvolle Konsequenzen gezogen worden sind – und die Systematik und Vernichtungslogik des Rechtsextremismus weiterhin unterschätzt wird.

Unser Mitgefühl gilt den Betroffenen, die zunehmend bedroht sind von jenen, die sie partout nicht als Teil von Deutschland begreifen wollen. Rassismus und Antisemitismus gehen uns alle an, denn sie zerstören unser gesellschaftliches Zusammenleben. Umso mehr wird es stets das gemeinsame Ziel unserer Arbeit sein, eine Gesellschaft mitzugestalten, in der Menschen ungeachtet ihrer Herkunft, Hautfarbe, Religion, politischen Haltung oder geschlechtlichen bzw. sexuellen Orientierung ohne Angst und selbstbestimmt leben können.

Doch der Rechtsterrorismus bedroht nicht nur unser gesellschaftliches Zusammenleben, sondern verändert auch unsere Arbeit – und stellt sie vor neue Herausforderungen. Der Bedarf an wirksamen Interventionen der Distanzierungsarbeit bzw. der aufsuchenden Ausstiegsarbeit ist stark gestiegen, ohne dass die Bedarfe der primären Prävention und Bildung geringer würden. In unserer Arbeit zeigt sich schon seit vielen Jahren, dass wir neben der Stärkung der prosozial eingestellten Jugendlichen – z.B. durch jugendkulturelle und politisch bildende Workshops – vor allem auch die nachhaltige Ansprache von rechtsextremistisch gefährdeten oder bereits rechtsextremistisch orientierten sowie von anderweitig schwer erreichbaren Jugendlichen leisten müssen.

Um Präventionsarbeit heute sinnvoll gestalten und effektiv umsetzen zu können, sind aus unserer Sicht mehr denn je folgende Schritte notwendig:

  • Es braucht neue Bündnisse, mehr aktive Unterstützung in allen gesellschaftlichen Bereichen und die vernetzte Zusammenarbeit von zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren, inklusive der Medien sowie einer – zunehmenden entpolarisierten – Parteienpolitik.
  • Gerade die Zusammenarbeit von zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteur*innen der Präventionsarbeit und inneren Sicherheit muss vor dem Hintergrund rechtsterroristischer Bedrohungen deutlich gestärkt werden. Polizei, Behörden und Zivilgesellschaft müssen lernen, sich als Partner:innen für eine demokratische und menschenrechtsorientierte Gesellschaft zu verstehen.
  • Mitarbeitende von Verwaltung, Schule und Polizei müssen dabei unterstützt werden, Rechtsextremismus in all seinen Dimensionen erkennen und dessen Wirkung und Folgen auf unsere demokratische Gesellschaft einschätzen zu können. Ebenso müssen sie dazu befähigt werden, diskriminierendes Verhalten abzustellen – auch in den eigenen Reihen.
  • Staatliche und nicht-staatliche Institutionen sowie Wirtschaftsunternehmen brauchen klare Richtlinien zum Umgang mit rechtsextremen oder rassistischen Vorkommnissen unter Kolleg*innen. Damit können sie im „eigenen Haus“ einen starken Beitrag für eine offene Gesellschaft und demokratische Kultur leisten. Die betrieblichen Ausbildungen und gewerkschaftliche Bildungsarbeit können hier Hand in Hand gehen.
  • In der Demokratieförderung und Extremismusprävention brauchen wir ein systemisches Präventionsverständnis: Das bedeutet einerseits, pädagogische Arbeit mit rechtsextrem gefährdeten jungen Menschen und Erwachsenen sicherzustellen, auch in der Jugend- und Familienhilfe, um zu verhindern, dass sich rechtsextreme Haltungen noch weiter ausbreiten (beispielsweise auch innerhalb von Familien).
  • Andererseits gilt es, (potentielle) Betroffene von rechter Gewalt wirksam zu unterstützen, mit anwaltlicher Beratung, verstärktem Schutz durch Sicherheitskräfte sowie mit Beratungsangeboten, die die notwendige Betreuung von Betroffenen von Hass-Kriminalität gewährleisten.
  • Zudem braucht es neue methodische Ansätze, um Jugendliche darin zu fördern, demokratische und menschenrechtsorientierte Haltungen anzunehmen und verschwörungsideologische Fallstricke zu erkennen, auch in schwierigen Zeiten, wie z.B. während einer Corona-Krise, und auch wenn sie von einem menschen- und demokratiefeindlichen Umfeld umgeben sind.
  • Zivilgesellschaftliche Bildung sowie aufsuchende Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit an Orten wie (digitaler) Schule und Jugendarbeit müssen aufgebaut und durch die verantwortlichen Landesministerien und Kommunen langfristig abgesichert werden.
  • Auf der Ebene der Bundesregierung muss endlich die gesetzliche Grundlage für eine kontinuierliche länderübergreifende Förderung geschaffen werden, während die Programmgestaltung gleichzeitig auch Fürsorge dafür tragen muss, dass die stets bestehenden Risiken des Verlusts von Praxisnähe und der Verbetrieblichung von Extremismusprävention abgewendet werden.

Spätestens nach Kassel, Halle und Hanau darf niemand mehr das Problem Rechtsextremismus verharmlosen. Wir alle sind dafür verantwortlich, tagtäglich für Demokratie und Menschenrechte in unserer Gesellschaft einzutreten und diese Prinzipien gegen rechtsextreme Angriffe zu verteidigen.

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